O tempora, o mores (01.07.2013)

 

Jetzt ist es kein (altes) Gerücht mehr! Offiziell demokratische Nationen sammeln mehr oder minder vollständig die Daten, die durchs Internet übermittelt werden. Die Dienste von Staaten, die zu solchen Datensammlungen in der Lage sind, sehen darin überhaupt nichts Fragwürdiges. (Es ist davon auszugehen, daß noch nicht bekanntgewordene Länder wie Israel, China, Japan, Russland oder Indien und diverse europäische Staaten an demselben Spiel beteiligt sind...). Die Firmen, die für die Datensammlungen die Voraussetzungen zur Verfügung stellen, helfen – zumindest im scheinbar nationalen Rahmen – „proaktiv“ bei der Datensammlung und werben gleichzeitig um verlorenes Vertrauen. Die politisch Verantwortlichen sind ausnahmsweise empörter als die normalen Datenproduzenten, weil sogar sie persönlich betroffen sind und sie sich von Alters her unantastbar wähnen. Untereinander pochen sie darauf, daß Krähen einander keine Augen aushacken dürfen... Und der einfache Internetnutzer ahnte es ja eigentlich schon lange, und außerdem hat er ja auch nichts zu verbergen...

Ein paar Datenschützer erheben schüchtern ihre sowieso kaum hörbaren Stimmchen und niemand ist bereit, dem Whistle-blower Asyl zu gewähren, der die Daten über die Daten so clever bröckchenweise unter die Leute bringt. Kein Staat möchte wirklich das am weitesten entwickelte Werkzeug aus der Hand geben, um das Staatsvolk (und andere) zu überwachen.

Und dann kommen wirtschaftliche Interessen dazu, ein irrationales Sicherheitsbedürfnis von uns allen, die fast völlige Unwissenheit Vieler um die Nutzbarkeit von Daten und ihre eigene Manipulierbarkeit, dann auch die normalen Spannungen zwischen nationalen Gebilden, kulturelle Eigentümlichkeiten, wenn es darum geht, was privat ist, und wahrscheinlich noch einiges Andere.

Mir fallen an dieser relativ unübersichtlichen Situation zwei Momente ins Auge:

Zum einen wird es in diesem Bereich zunehmend sinnloser, sogenannte Grundrechte (hoch soll‘n sie leben!) national zu schützen. Auch die demokratische, das heißt parlamentarische Kontrolle hat hier kaum Ansatzpunkte. Demokratie, die sich immer noch im Sinne eines Staatsvolkes versteht, kommt hier an grundsätzliche Grenzen: Sie neigt offensichtlich zur Mißachtung der Rechte all derer, die nicht mit abstimmen dürfen.

Die völlige Rücksichtslosigkeit, mit der die USA allen Nicht-Amerikanern Demokratie und Liberalität verordnen, um sie dann nirgendwo außerhalb (und in vielen Bereichen auch nicht innerhalb) der USA zu respektieren, mag beunruhigend erscheinen. Sie darf aber bei einer Nation, die sich für die säkulare Version des auserwählten Volkes hält, nicht verwundern. Selbst der von uns nicht mehr so hoch geschätzte Präsident Obama hat schon in seinem ersten Wahlkampf immer klar gemacht, daß er die USA nie einfach für eine (besonders mächtige) Nation unter anderen hielt. So weigern sich die USA, internationale Gerichte für eigene Bürger anzuerkennen, haben aber den Anspruch, weltweit als Polizei, Richter und Henker in einer Person aufzutreten. Die europäische Aufregung über den Vertrauensbruch der USA hat Präsident Obama bei seinem Besuch in Europa wohl nicht heruntergespielt oder unterschätzt: Als überzeugter Amerikaner kann er sie gar nicht verstehen. Hier gälte es von europäischer Seite einen gefährlichen Realitätsverlust bei Freunden (viel zu spät) anzusprechen.

E.W. Böckenfürde hat in seiner berühmten Doktrin erklärt, der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne. Das sei das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen sei. Die USA führen zunehmend den Totalitarismus vor, der entsteht, wenn der demokratische Staat mit allen Mitteln seine schwindende Substanz zu verteidigen sucht. Und täuschen wir uns nicht: Die USA sind uns nur um Weniges voraus...

* * *

Wie tun alle mehr oder weniger überrascht, daß das Internet ein durch und durch öffentlicher Raum ist – jetzt auch offensichtlich ohne jede private Ecke.

Vielleicht sollten wir darum zum anderen auch ganz individuell unser Verständnis von Privatsphäre überdenken. Denn den Schutzraum des Privaten opfern wir zunehmend einem verführerischen und trügerischen Informationskomfort und einem virtuellen Gemeinschaftsgefühl.

Nur: Auf wie viel echten Privatraum sind wir bereit zu verzichten, bloß um uns nicht allein zu fühlen?

Es gibt hier so etwas wie eine verstärkende Wechselwirkung: Je mehr von meinen sozialen Beziehungen sich über elektronische Medien abspielen, desto mehr schwindet das Geflecht meiner täglichen konkreten menschlichen Begegnungen. Telefonate statt Gespräche, Mails statt Briefe, soziale Netzwerke statt Smalltalk und Tratsch, Net of Trust und Zertifikate statt Vertrauen. Auch 3D-Videotelephonie kann ein leibhaftiges Gegenüber nicht ersetzen. Meine tatsächliche Isolation wächst und mit ihr die Nutzungsdauer von vernetzenden Medien und die Abhängigkeit von der vermittelnden Technik. Ich lebe in einer obskuren Form von absonderlicher Einsamkeit, verdeckt durch die Quantität und Intensität meiner virtuellen „Kontakte“.

Wir alle sind zunehmend nicht mehr bereit, unser Smartphone zumindest ab und zu auszuschalten; wir lächeln schon lange nicht mehr mitleidig über die japanischen Touristen, die alles nur durch Kameraobjektive erleben; nein, wir stellen selbstverständlich die Photos von unserer letzten Grillparty sofort ins Netz; kaum jemand erträgt die Straßenbahnfahrt ohne die nur für ihn hörbare „Filmmusik“ aus den Ohrstöpseln; wir melden natürlich bei Facebook, daß wir uns frisch verliebt haben; und wir halten keinesfalls den virtuellen Mund, auch wenn wir gar nichts zu sagen haben. Diskretion zählt nicht mehr zu den sozialen Qualitäten. Bevor wir still sind, plappern wir lieber gedankenlos, gerne auch über Intimstes.

Eine grundlegende Eigenschaft medial vermittelter Beziehungen ist, daß Stille immer und ausschließlich Einsamkeit bedeutet. Unter echten Menschen kann sie Ausdruck von Vertrautheit und Nähe sein.

Vielleicht macht Mr. Snowden uns einfach darauf aufmerksam, daß weder unsere Politik noch unsere Beziehungen sich jemals wirklich in Medien abspielen, seien diese Medien noch so mächtig und anziehend.

Vielleicht fällt uns dadurch auf, daß da wie dort der Verzicht auf Möglichkeiten eine Voraussetzung für Freiheit und Vertrauen ist.

Auch wenn Sie das hier dank des Internets lesen: Vielleicht strafen Sie PRISM und TEMPORA durch viel Abwesenheit im Netz und sind mal wieder unverschlüsselt privat. Das kann Dinge in Gang setzen, von denen sich die NSA nichts träumen läßt...

J. Fischer-Barnicol

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